Eine ungeteilte Generation

Der 3. Oktober ist in meiner Familie ein recht großer Feiertag – mein Vater hat an diesem Tag Geburtstag, ebenso sein Zwillingsbruder, mein Zwillingsbruder und ich selbst auch. Heute steht also einmal mehr dieser Tag an und da ich dieses mal auch nicht in der Weltgeschichte auf Konferenzreise unterwegs bin, werde ich diesen Tag bei meinen Eltern verbringen.

Allerdings bin ich eigentlich kein großer Freund von Geburtstagsfeiern für mich; der 3. Oktober hat für mich eine ganz andere Bedeutung. Für die meisten Menschen ist der Tag in Deutschland einfach nur ein freier Tag – im Gegensatz zu den Nationalfeiertagen anderer Länder, z.B. Russlands, der USA oder Frankreichs, sind die Feierlichkeiten in unserem Land dazu eher überschaubar und vielleicht ist das auch gar nicht schlecht, denn eigentlich ist es eher etwas zum Nachdenken.

Wir feiern heute zum 25. mal die Wiedervereinigung Deutschlands. Ist das nicht bemerkenswert? Da ich in Ostberlin geboren wurde, hatte die Teilung Deutschlands für mich weitreichende und sehr unmittelbar erfahrbare Konsequenzen, deswegen messe ich diesem Tag vielleicht mehr Bedeutung bei als andere Deutsche. Aufgrund meiner Familiengeschichte, vielleicht auch mehr als die meisten einst Ostdeutschen. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass eine ganze Generation inzwischen geboren und aufgewachsen ist, seitdem Deutschland wieder ein Land wurde. Eine ganze Generation von Menschen kennt den Zustand der Teilung nicht mehr, für sie ist Realität, dass unser Land ein einziges ist.

Teilung

Die Teilung Deutschlands wurde von den Alliierten schon während des Krieges auf verschiedenen Konferenzen diskutiert, vornehmliches Ziel war zunächst, dass Deutschland – als Initiator von zwei Weltkriegen – nie wieder eine Bedrohung für andere Länder darstellen sollte. Dazu sah man als ein Mittel an, das Land zu zerschlagen. Szenarien wurden gesponnen, dass Deutschland eine Agrarnation werden sollte, die keine nennenswerte Industrie besitzt – Industrie, die ggf. für die Herstellung von Waffen Verwendung finden kann.

Im Laufe des Krieges wurde deutlicher, dass Deutschlands Niederlage entscheidend werden und es ohnehin kaum noch eine Bedrohung darstellen würde – der Krieg war total, ebenso die letztendliche Niederlage. Dafür zeichnete sich bereits eine Spaltung innerhalb der Alliierten ab – die geopolitischen Interessen von Ost und West wurden sehr verschieden und der Westen wollte vor allem ein Deutschland, das als Puffer gegen den Osten dienen konnte. Im Osten wiederum wurden sowjetische Satellitenstaaten kreiert, in den Gebieten, die durch die Rote Armee von deutschen Besatzern befreit wurden.

Im Sommer 1945 trafen sich die Siegermächte in Potsdam und diskutierten die Zukunft Deutschlands – die Konferenz scheiterte beinahe an den großen Differenzen der Interessen. Vor allem aufgrund der immensen Schäden, die der Krieg in der Sowjetunion verursacht hatte, war das Interesse Stalins, alles was Wert hatte in Deutschland mitzunehmen und das Land seinem Schicksal zu überlassen. Die Westalliierten wollten – wohl als Puffer zum Osten – Deutschland nicht völlig zerschlagen und zuerst den inländischen Bedarf decken, um alles was übrigblieb zu enteignen. Da man sich nicht einigen konnte, beschloss man die Teilung in Ost- und West, wo jede Siegermacht handeln konnte, wie sie es wollte.

Die Geschichte nahm ihren Lauf, Deutschland existierte schließlich in Form von zwei Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Die innerdeutsche Grenze war eine langer, breiter Todesstreifen, gespickt mit Minen, Selbstschussanlagen und natürlich Soldaten, die auf Menschen schossen, die die Grenze überwinden wollten.

Flucht und ihre Gründe

Die Unzufriedenheit ersetzte in Ostdeutschland schließlich den Pioniergeist. War man angetreten, einen neuen, friedlichen Staat zu gründen, der von Gleichheit geprägt war, so sah die Realität ganz anders aus. Es gab einige „Gleichere“, die Privilegien genossen, die meisten taten dies nicht. Reisen war sehr eingeschränkt, ebenso Berufswahl und generell die Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung und Entwicklung. Wer nicht parteikonform war, d.h. der SED angehörte oder zumindest ihrer Führung folgte, hatte schwere Konsequenzen zu ertragen. Der wirtschaftliche Wohlstand war im Westen deutlich höher – ich kann mich an Geschichten meiner Eltern erinnern, wo es schon eine Herausforderung war, einen Strauß Blumen zu kaufen oder wo sie im Restaurant einen Tisch freimachen mussten, im eigenen Land, weil westdeutsche Gäste – mit Westgeld – diesen brauchten. Bürger zweiter Klasse zu sein, im eigenen Land, sind alles keine guten Voraussetzungen, um die Bevölkerung zu begeistern. Und viele versuchten, trotz der tödlichen Gefahr, die Grenze zu überwinden. 75.000 Menschen wurden in der DDR wegen Republikflucht verurteilt, mit langen Gefängnisstrafen. Abgesehen von der Ächtung in der Gesellschaft. Vertrauen war Mangelware, denn dank eines umfassenden Überwachungssystems, inklusive von Denunzianten und Spitzeln, war es kaum möglich unentdeckt zu bleiben. Noch heute spricht man von „Stasimethoden“ (auch wenn inzwischen die Überwachung in bestimmten Bereichen kaum noch weniger ist, als zu DDR-Zeiten).

Die Berliner Mauer am Brandenburger Tor.
Die Berliner Mauer am Brandenburger Tor.

Ende der 80er beschlossen auch meine Eltern, dass dies kein Staat ist, in dem ihre Kinder groß werden sollten. Eine „spektakuläre Flucht“ durch Schleuser und Co kam aber mit drei kleinen Kindern nicht in Frage, also ersannen sie einen anderen Plan. Es gab durchaus die Möglichkeit einen Antrag auf Ausreise zu stellen, da mein Vater allerdings eine lange Karriere beim Militär hinter sich hatte und über wichtige Informationen, z.B. bzgl. Freund-Feind-Erkennung verfügte, war dies keine Möglichkeit, die er beanspruchen konnte. Wahrscheinlich wäre er alleine für die Antragsstellung inhaftiert worden. 1987 beantragte er stattdessen einen Familienbesuch im Westen – die Tatsache, dass er seine Familie noch im Osten beließ, bedeutete offenbar ausreichend Sicherheit für die Behörden und man genehmigte diese Reise. Eine Reise von der er nicht zurückkehrte, sondern begann ein Leben im Westen aufzubauen. Nunmehr offenbar regimefeindlich beantragte daraufhin meine Mutter die dauerhafte Ausreise aus der DDR.

Ich war damals noch zu klein, um die großen Hintergründe zu verstehen, aber der „Westen“ wurde etwas wie ein gelobtes, magisches Land, wo mein Vater war. Die Folgen der Flucht waren allerdings auch für mich spürbar. Es war offensichtlich, dass wir überwacht wurden, dass man in unsere Wohnung eindrang und sie durchsuchte (natürlich illegal), dass meine Mutter jeden Tag zum Stasiverhör musste. Auch in der Schule und bei Freunden waren die Folgen deutlich zu bemerken – als Sohn eines Republikflüchtlings stand man nicht gerade weit oben auf der Beliebtheitsliste. Als Berliner war die Grenze auch kein Fremdwort und ich wusste auch ganz genau, wo der Westen war, nämlich hinter der Mauer, die von Soldaten patrouilliert wurde. Diese Zeit meiner Kindheit, mit vielen wenig schönen Erinnerungen, dafür beängstigenden Erlebnissen ist mir noch sehr vertraut – was nicht bedeuten soll, dass es unerträglich war. Es gab auch in dieser Situation der Flucht noch treue Freunde.

Es dauerte zwei Jahre, bis schließlich die Ausreise genehmigt wurde. Wir Kinder erfuhren davon auch nichts bis zum eigentlichen Tag, denn es konnte sich noch jederzeit etwas ändern. So erinnere ich mich noch sehr deutlich daran, dass ich im Dunkeln geweckt wurde, eine unserer guten Freunde war ebenfalls da und half meiner Mutter mit verschiedenen Sachen – dies war so ungewöhnlich, dass ich zuerst begriff, was los war und ganz aufgeregt nachfragte, „fahren wir heute etwa zum Vati“. Das taten wir dann. Wir hatten jeder nur einen Rucksack mit Sachen und los ging es in den Westen, wo meine Eltern hart arbeiteten, um uns ein neues Leben aufzubauen. Aber auch für uns Kinder war es nicht leicht in einer neuen Welt und einer neuen Lebenssituation zurechtzukommen.

Nachbeben

Die Zeit der familiären Trennung, die Folgen im Erleben anderer Menschen und der eigenen Ausgrenzung, das Erleben von Unterdrückung und der Verweigerung bestimmter Freiheiten und Rechte und die generelle Ungerechtigkeit, die ich in meinem Geburtsland erlebt habe, haben mich sicher stark geprägt. Einige unangenehme Erinnerungen sind vor allem die, wo ich auf der Straße von Fremden angesprochen und ausgehorcht wurde (bzw. versuchten sie es).

Und ich hatte es noch wirklich leicht – viele hundert Menschen starben bei der Flucht oder wurden auf andere Weise Opfer der staatlichen Gewalt. Flüchtlinge galten als Verräter und auch Frauen und Kinder waren nicht sicher. So heißt es in den Befehlen der Grenztruppen: „Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schußwaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben.“  Andere wurden über Jahre inhaftiert in Psychiatrien und Gefängnissen. Die meisten wurden einfach sehr stark in ihren Freiheiten beschränkt und konnten sich nicht so entwickeln, wie sie es gewünscht hätten.

Heute ist dies lange Vergangenheit und die Freiheit der einzelnen wird in unserem Land respektiert – wenn auch bei weitem nicht alles gut ist. Die Überwindung der deutschen Teilung ist vor allem auch eine Überwindung einer systematischen Verletzung der menschlichen Würde, der Menschenrechte und eine Missachtung von Gerechtigkeit in einem Staat, der lange Zeit ebenfalls „deutsch“ war.

Deutschland ist nun seit 25 Jahren wiedervereinigt, d.h. schon weit mehr als die hälfte der Trennungszeit. Eine ganze Generation ist inzwischen aufgewachsen, ohne die Trennung zu kennen. Dies ist ein Grund zu feiern. Die Tatsache, dass dies in Deutschland in der Regel eher zurückhaltender passiert, liegt vielleicht daran, dass der Grund der Teilung finster ist und diese nicht unverschuldet ist durch die Deutschen. Das wirklich Besondere und sehr Ermutigende ist aber der Umstand, dass die Wiedervereinigung gänzlich friedlich von statten ging, Bürgerproteste und ein Aufbegehren der Bevölkerung gingen nicht einher mit einem Bürgerkrieg – politische Änderung kann es also mit friedlichen Mitteln geben und ich denke, dies ist ein großes Vermächtnis der deutschen Wiedervereinigung.

Wir haben heute eine Kanzlerin, die aus der ehemaligen DDR kommt, ebenso einen solchen Präsidenten. Aber es gibt noch immer Dinge, die es zu überwinden gilt. Die wirtschaftliche Lage ist unterschiedlich, so bekommen z.B. Menschen in Ostdeutschland weniger Bezüge im Öffentlichen Dienst als in Westdeutschland. Dennoch ist das wiedervereinte Deutschland inzwischen eine Selbstverständlichkeit, die nicht mehr wegzudenken ist. Und das ist ein großes Glück. So kann man sagen, dass tatsächlich „Einigkeit und Recht und Freiheit“ herrschen in unserem Land.

Feier zur Wiedervereinigung 1990.
Feier zur Wiedervereinigung 1990.

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